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Rheinische Friedrich-Wilhelms-
Universität Bonn
Sommersemester 97

 

Georg Büchner: Lenz

Protokoll der Vorlesung vom 13. Mai 1997

aus der Vorlesungsreihe Realismus
gehalten von Herrn Prof. Dr. Steinhagen

 

vorgelegt von
Dr. Christoph Grandt

Bonn, im Mai 1997

 


Zusammenfassung

Zwei Aspekte sind es, die Büchners Lenz bemerkenswert machen. Zum einen ist es Büchners einzigartig einfühlsame Darstellung von Lenzens innerer, von Depressionen und Zerrissenheit geplagter Verfassung. Zum anderen ist es die Tatsache, daß Büchner erstmalig innerhalb einer Erzählung die Voraussetzungen für eben solche Erzählungen (mit Hilfe eines Kunstgespräches) thematisiert. Sowohl in diesem Gepräch, als auch auch im Gesamtkonzept des Lenz, wird Büchners Kritik an Idealistischer Dichtkunst deutlich, und damit auch Büchners literarisches Credo. Lenz ist nämlich keine „Holzpuppe", die nur symbolisch und leblos für irgendwelche abstrakten Werte steht, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Recht auf ein Leben, welches Selbstzweck ist und nichts anderes.

Büchner ist mit seinem Lenz aber noch in anderer Hinsicht seiner Zeit voraus: Anders als bei dem verklärenden, harmonischen Realismus eines Fontane oder Storm, denkt Büchner nicht daran, das Häßliche aus seiner Kunst zu verbannen. Er verlangt Leben, und zwar so, wie es ist, nicht so, wie es vermeintlich sein soll! Damit opponiert Büchner bereits gegen eine Strömung des Realismus, welche zu seinen Lebzeiten noch gar nicht existiert.

Durch Büchners Lenz werden damit naturalistische, wenn nicht gar expressionistische Merkmale vorweggenommen.


Literaturhinweise

Für die Lektüre des Lenz werden die folgenden beiden Ausgaben empfohlen. Sie enthalten weitere Schriften, die die Entstehungsgeschichte des Lenz erhellen:

Reclam, Studienausgabe, Georg Büchner: Lenz, Hg.: Hubert Gersch.

Diese Ausgabe enthält die weitestgehend authentische Textfassung des Lenz (siehe Kap. 2) sowie einen Anhang mit dem Bericht des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin Der Dichter Lenz im Steinthale, welcher Büchner als Vorlage diente. Außerdem enthält die Studienausgabe Auszüge aus Dichtung und Wahrheit, in denen sich Goethe über Jakob Michael Reihhold Lenz äußert sowie ein eher technisches Nachwort von Hubert Gersch.

Insel Taschenbuch, Büchner, Lenz, Hg.: Jürgen Schröder.

Zusätzlich zur authentischen Fassung des Lenz, [bei der man sich allerdings einige Änderungen bei Büchners unkonventioneller Interpunktion erlaubt hat]*, und den Aufzeichnungen des Pfarrers J.F. Oberlin, enthält diese Ausgabe noch ausgewählte Briefe von J.M.R. Lenz, Zeittafeln zu J.M.R. Lenz und J.F. Oberlin sowie ein gehaltvolles, interpretierendes Nachwort von Jürgen Schröder.

Neben diesen Textfassungen wird noch auf die Erläuterungen und Dokumente (Reclam, grün) zu Büchners Lenz hingewiesen.


Über den historischen Hintergrund und die Entstehung des Lenz

Büchners Lenz, ist vermutlich 1835 in Straßburg entstanden. Hier erhielt Büchner aus den Papieren des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin Kenntnis vom dreiwöchigen, von Wahnsinnsanfällen überschatteten Aufenthalt des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz in Waldersbach im Steintale (Nordvogesen), die ihm als Vorlage dienten. J.M.R. Lenz, der 1771 Goethe kennenlernte, sich mit ihm verbunden fühlte, von ihm jedoch nie richtig ernst genommen wurde, reiste 1778 von Emmendingen ins Elsaß, war ab dem 20. Janauar Gast des Pfarrers Oberlin, der ihn aufgrund von Selbstmordversuchen Anfang Februar nach Straßburg wieder fortschicken mußte.

Die Quellenlage hinsichtlich des Lenz ist kompliziert und soll hier nicht weiter ausgebreitet werden. Nur soviel: Es handelt sich bei dieser Erzählung vermutlich um ein Fragment, welches nur noch in Abschriften bzw. verfälschten Neuauflagen (insbesondere durch Büchners Bruder Ludwig) existiert. Aufgrund neuerer Forschung ist jedoch die Authentizität der oben genannten Textfassung weitestgehend gesichert, welche auf einer Abschrift von Büchners Braut Wilhelmine Jaeglé für Karl Gutzkow beruht, der die Erzählung in der Zeitschrift Telegraph für Deutschland in acht Fortsetzungen (!) im Jahre 1839 veröffentlichte. Büchners Manuskripte und die Abschrift sind dagegen verschollen.

In wieweit Büchners Lenz nur in fragmentarischer Form vorliegt, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen. Einige Lücken in der Mitte des Werkes sind spürbar; der Anfang und das Ende der Erzählung haben jedoch wahrscheinlich bereits die endgültige Gestalt.

 

Was ist das Außergewöhnliche am Lenz ?

Das bemerkenswerte Porträt eines geisteskranken Helden

Der Gegenstand von Büchners Erzählung ist Lenz und dessen Wahnsinn. Dies ist ein überaus schwieriges Sujet ohne Vorbild, denn wo findet sich schon ein wahnsinniger Held als Hauptfigur? Dieses Thema erfordert ein hohes Maß nicht nur an Kunst, sondern auch an Einfühlungsvermögen, welches Büchner offenbar besaß. Büchners eindringliche Beschreibung von Lenzens Gemütszustand zeugt deutlich davon, daß Büchner eine solche Geistesverfassung nicht fremd war. Tatsächlich läßt sich aus Büchners Briefen an seine Braut schließen, daß auch er labil war und unter lang anhaltenden Depressionen litt, wenn auch nicht in dem Maße wie die Hauptfigur seiner Erzählung. Büchner fühlte sich also dem Lenz in dieser Hinsicht verwandt. Nur so ist es möglich, daß er mit solcher Überzeugungskraft nicht nur die äußere, sondern auch die innere Verfassung des Lenz darstellen konnte [die, folgt man Jürgen Schröder, auch heute noch einzigartig geblieben ist].

 

Büchners Opposition gegen die Idealistische bzw. Klassizistische Dichtung

Zwischen Lenz und dem Schriftsteller Kaufmann erfindet Büchner ein Gespräch über Kunst und Dichtung. Wenn Büchner dort über Idealismus und Realismus (ohne dieses Wort zu nennen) sprechen läßt, so thematisiert er damit seine eigene Aufassung von Realismus, die mit der von J.M.R. Lenz verwandt ist und die sich daneben durch einen Brief Büchners an seine Familie über seinen Danton erfassen läßt. Im Lenz werden damit zum ersten Mal innerhalb einer Erzählung die Voraussetzungen des Erzählens reflektiert.

Lenz bringt seine Kritik an Schiller'scher Idealistischer Dichtung in dem Satz zum Ausdruck: „Da wolle man idealistische Gestalten, aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur." Dies korrespondiert mit Büchners lebenslang gehegter Auffassung vom Leben als Selbstzweck, (statt: Mittel zum Zweck). Dieses Credo steht vermutlich im Zentrum von Büchners Realismus. Übrigens verbindet ihn dies mit Goethe, der selbst über seinen Faust sagte: „Faust wollte nicht begreifen, daß ihm das Leben zum Leben gegeben war und nicht zu anderen Zwecken".

Anderen Dichtern sind Büchners Gestalten aus Fleisch und Blut zu gemein, zu ordinär, während Büchner kritisiert, daß der Idealismus die Menschen um das Recht auf Leben beraubt, sie nur zu dichterischen Zwecken mißbraucht und sie wie Marionetten zurechtdreckselt. Die Idealistische Dichtung tue den lebendigen Menschen Gewalt an (und sei es nur durch das Versmaß), statt die Gewalt darzustellen, die ihm real angetan wird. Sie verhindere, daß die Menschen ihr Leben (als Selbstzweck!) wahrnehmen können.

 

Büchners Werk als Opposition zum verklärenden Realismus avant la parole

Der Bürgerliche Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also derjenige eines Fontane, Raabe, Storm oder Keller, ist, trotz aller Verpflichtung zur Realität, geprägt von poetischer Verklärung und Harmonisierung zum vermeintlichen Wohle des Lesers. Es ist nun erstaunlich, daß Büchner eigentlich auch bereits gegen diesen Realismus opponiert, den es ja zu seiner Zeit eigentlich noch gar nicht gibt. Im Kunstgespräch des Lenz drückt Büchner sich entsprechend unzweideutig aus: „Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen."

Lenz setzt also den klassizistisch-idealistischen Schönheitsbegriff außer Kraft, so, als ob Büchner schon weiter sei, als die späteren Realisten. Dies zeugt von Büchners außergewöhnlicher Modernität! Während die späten Realisten alles Häßliche und die Misere aus der Kunst ausschließen, weil dies der verklärenden Darstellung widerstrebt, hat dies Büchner nicht nötig, denn ihm fehlt das Moment der Verklärung. Dies liegt natürlich auch an Büchners Themen, denn wie soll man z.B. den Woyzeck verklären? Während für Fontane (1848) jedoch eine Kunst ohne Verklärung unvorstellbar ist, was auf idealistische Restbestände in seinem Denken hinweist, zeigt die eigentlich modernere, durchdachte und konsequente Dichtung Büchners, daß dies sehr wohl möglich ist. Erst viel später versuchen die Naturalisten eine Radikalisierung des Bürgerlichen Realismus.

 

Zur Verdeutlichung einige Bemerkungen zu Büchner als Dramatiker:

Aristoteles unterscheidet streng zwischen dem Historiker, der beschreibt, was geschehen ist, nämlich das Besondere und dem Dichter, der beschreibt, was geschehen könnte, und damit allgemeine Aussagen machen kann. Letzteres sei als höherwertiger und mächtiger einzustufen. Büchner benutzt nun diesen aristotelischen Gegensatz, um mit ihm im nächsten Schritt bewußt zu brechen und sich (als Dichter!) auf die Seite des Geschichtsschreibers zu stellen. Somit geht er zwar das Risiko ein, nichts „Höherwertiges" zu produzieren, wächst durch seine außergewöhnliche Kunstfertigkeit aber gerade über diesen Gegensatz hinaus und produziert dadurch eines der mächtigsten Werke realistischer Dichtkunst. Büchner will die Welt zeigen, wie sie ist. Er will sie nicht besser machen, als sie der Liebe Gott gemacht hat. Er will einzelne Menschen in ihrer Besonderheit, ihrer menschlichen Natur gemäß, porträtieren und nicht als symbolische Holzpuppen benutzen.

Das Drama ist dazu naturgemäß besonders gut geeignet, denn der Dramatiker läßt seine Personen selbst reden, wodurch sie vordergründig zum Subjekt werden. Die Literaturgeschichte zeigt jedoch, daß bis zu Büchner auch im Drama die Personen meist nur Bedeutungsträger sind, um etwas Allgemeines zu repräsentieren, z.B. eine Moral, ein Prinzip oder eine Weltanschauung (es gibt Ausnahmen, z.B. Goethe). Diesen Personen ist dies bewußt: Lessings Emilia Galotti tötet sich in dem Moment, als sie ihre eigene Natur entdeckt.

Büchner macht dagegen seine Personen tatsächlich zu mündigen Subjekten, Menschen aus Fleisch und Blut mit Recht auf eigenes Leben. Bei einem Historiker brauchten sie immer einen Vormund, nämlich den Historiker selbst, der für oder gegen sie spricht.

 

Zurück zum Lenz (und Vorschau auf die nächste Sitzung):

Beim Lenz handelt es sich nun um eine Erzählung, nicht um ein Drama. Entsprechend schwieriger ist es für Büchner natürlich, seine Intentionen hier zu verwirklichen, seinen Helden also als mündiges Subjekt darzustellen…


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