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Brief aus Indien nach Hause, im März 1992


Periyar, den 25. März 1992

Wenn Ihr den Atlas zur Hand nehmt und durch Cochin, Madurai und Trivandrum ein Dreieck legt, so sitze ich jetzt ziemlich genau in der Mitte dieses Dreiecks in den Kardamom-Bergen. Vielleicht ist dort sogar ein See eingezeichnet, der Periyar-Lake, wo, fünf Kilometer von hier entfernt, ein Naturschutzgebiet beginnt. Barbara ist im Morgengrauen mit dem geliehehen Fahrrad dorthin gefahren, um zu „trekken" bzw. zu „hiken". Man könnte es auch Waldspaziergang nennen, bei dem sie dann wilde indische Tiere, besonders Elefanten, zu sehen hofft. Das kann sie aber nur mit einem Führer in der Gruppe tun, und ich kann nur hoffen, daß sie keine Horde geräuschvoller indischer junger Männer als Wandergenossen zu ertragen hat, bei denen sich dann jedes noch so mutige Tier in den hinersten Winkel des Waldes verziehen würde.

Indien ist laut, und die Geräusche sind andere als in Europa. In der Stadt dominiert natürlich der Straßenverkehr mit seinen tausenden Motorrollern und den Dreiradtaxis („autos" genannt), die nur verkappte Vespas sind. Deren Hupgeräusch besteht aus einem langgezogenen Krächzen, welches, da der Inder gern und ausgiebig hupt, die Lärmkulisse bildet. Um einiges lauter dröhnen dann alle paar Sekunden die Schiffshörner der Lastwagen und Busse. Hier ist das Hupen nicht einfach ein stumpfsinnigers hier-bin-ich-Signal; es ist eine Sprache mit Aussagekraft. Wir konnten einen Busfahrer beobachten, der während der mehrstündigen Fahrt ununterbrochen mit der rechten Hand einen Hebel, einen Dreifach-Umschalter und einen weiteren Druckknopf bediente, um das Repertoire seinen Instruments voll auszuschöpfen. Und trotz der Schwerstarbeit am Steuer wurde der Huphebel immer zärtlich ausgelenkt, um, Morsesignalen gleich, kurze und lange Zeichen auszusenden.

Neben dem Straßenlärm gibt es dann noch die überall in der dritten Welt verbreiteten Kassettenläden, aus denen mittels völlig überforderten Lautsprechern die neuste Filmmusik kreischt. Denn Indien ist der größte Filmproduzent der Welt, und in indischen Filmen wird ausnahmslos immer auch getanzt und gesungen. Die Musik ist dabei genauso wichtig wie die Bilder. Wenn ein Inder mit Walkman und Kopfhörern die Straße entlangspaziert, dann weiß man, neben der Tatsache, daß er reiche Eltern haben muß, daß er gerade den Hit vom neuesten Film hört und dabei die gesamte Handlung wieder vor Augen hat. Die Handlung ist immer schön, und alles ist sauber und aufgeräumt. Im Film gibt es keinen Dreck auf der Straße, der Held wird nie in Kuhmist treten, und die Filmwohnungen haben tatsächlich Möbel, die diesen Namen verdienen. Dagegen leben in Wirklichkeit fast alle wohlhabenden Inder, einschließlich Universitätsprofessoren, unter Benutzung von Pappkartons und Campingstühlen in einer Wohnatmosphäre wie bei uns zwei Tage nach einem Umzug.

Die Handlung des indischen Kommerzfilmes folgt einem ritualisiertem Schema, das uns, wie Filme es immer tun, in die Seele des Landes blicken lassen. Es geht im allgemeinen um die Zuneigung einer Frau zu einem Mann. Im Lande der strengen Familienbande und der „arranged marriages" ist dies ein Thema mit handfesten Komplikationen. Alle, insbesonderere die großen Brüder der Frau, betrachten die Beziehung, die noch gar keine ist, mit Argwohn. Aber die Zuneigung wird trotzdem zu Liebe in dem Augenblick, wo sie an einem Fluß oder See in Wasser plumpst und der Held sie rettet.

Diese obligatorische Wasserszene gibt dann Gelegenheit zu erotischem Nervenkitzel, denn das typische südindische Frauengewand, der Sari, hat ja die Eigenschaft, sich naß eng an den Mädchenkörper anzuschmiegen, und zudem eine Seite der Taille in Bauchnabelhöhe unbedeckt zu lassen. Just dort greift die Hand des Retters, in Großaufnahme Hand-Hüfte und in Super-Zeitlupe. Das Publikum rast! Doch damit nicht genug: Um den Zuschauern den Rest zu geben, wird zurückgespult und dieselbe Szene noch mehrmals sekundenlang wiederholt. Neben diesem Part gibt es dann Handgreiflichkeiten nur noch in Form von Prügelszenen nach Hong-Kong-Manier. Der in Präsenz seiner Freundin immer kindlich-schüchterne Held wird dann zum rasenden Rächer.

Ansonsten sind die Filme gespickt voll von Symbolik, die dem unbedarften Europäer erst einmal erklärt werden muß: Warum ißt sie denn jetzt plötzlich die Reiskörner vom Müll? Weil es eben seine Essensreste sind und die Ehefrau immer nach ihrem Mann von seinem Teller ißt, aber es darf ja niemand wissen, daß er schon ihr Ehemann ist, und nicht einmal er weiß ja von seinem Glück. Wieso das denn? Wieso ist er denn jetzt schon ihr Ehemann? Na, weil er ihr doch in der vorletzten Szene ganz unbewußt die Sowieso-Kette um den Hals gelegt hat, die das unumstößliche Zeichen für Heirat ist. Tatsächlich sind die Brüder total aus dem Häuschen, als sie ihren Trick erkennen. Sie versuchen dann noch, den Helden umzubringen (denn dann ist sie ja Witwe und darf nach einem Jahr einen von der Familie ausgesuchten Partner ehelichen), aber zum Schluß kriegen sich die beiden natürlich doch. Im letzten Film, den wir gesehen hatte, starb sie allerdings leider kurz vorher. Diese Film-Opern bilden eine Traumwelt, der fast alle Inder verfallen sind. Auch die Fernsehfilme sind ähnlich und genauso überzeichnet. Die meiste Zeit geht durch bedeutungsschwangere Blicke drauf, und die Frauen und Mädchen sind dauernd am Leiden und Heulen.

Indiens Straßen sind gesäumt von überdimensionalen, knallbunten Kinoplakaten. Der Held, und damit das Männerideal, ist für unsere Begriffe zu fett, eher gedrungen klein mit Mondgesicht und Schnurrbart. Dieser Typ ist genauso stereotyp auf den Plakaten zu sehen, wie man ihn auf Indiens Straßen niemals zu Gesicht bekommt. Die Mehrzahl der Männer sind schmale halbe Portionen, alle gleich schlecht angezogen in grau-braunen Synthetikhosen und falblosen Hemden. Die Frauen haben da wenigstens das Farbenspiel, um etwas Pfiff in die Kleidung zu bringen. Aber auch hier Uniformität: Entweder Sari oder Kostüm, aber immer exakt gleich geschnitten und dann immer die gleiche Frisur: lange schwarze Zöpfe. Wenn etwas in Indien nicht gefragt ist, dann ist es Individualität. Sogar bei linksgerichteten Demonstrationen werden die Demonstranten dorch extra darür angeheuerte Ordner mit Stöcken in Reih’ Glied gehalten. Diese stockschwenkenden Ordner gibt es zu allen möglichen Anlässen, zum Beipiel auch vor Kinokassen, wo sich sonst angeblich niemals geordnete Schlangen bilden würden, und man kämpfen müßte wie an Bushaltestellen.

Wenn das Publikum dann aus dem Kino in die Realität strömt (alles stürzt sofort nach der Schlußszene wie von der Tarantel gestochen hinaus) müssen sie dann wieder Sandhaufen und Löchern ausweichen, vor Fahrzeugen in Deckung springen und sich in überfüllte Stadtbusse zwängen. Das Problem als Fußgänger in einer indischen Stadt besteht darin, daß es entweder keinen Bürgersteig gibt, oder daß er von hockenden Verkäufern mit ihren Auslagen vollständig belegt wird.

Es gibt Ausnahmen, wie zum Beispiel in der früheren französischen Kolonialstadt Pondicherry. Dort ist das Trottoir wirklich als solches zu erkennen und sogar durch ein Geländer von der Straße getrennt. Nun sind Indiens Straßen aber nicht nur von Fahrrädern, Rikschas, Autos, Ochsenkarren und natürlich von ungeheuren Menschenmassen bevölkert, sondern es flanieren dort auch diverse andere Säugetiere. Und so haben wir uns in Pondicherry den offenen Bürgersteig in dem Moment wiedergewünscht, als uns, nein, nicht etwa ein banales Wildschwein oder eine noch banalere Kuh, sondern ein tonnenschwerer Wasserbüffel entgegenstapfte. Indien ist eben ganz anders, unvergleichlich.

Wenn man von Afrika nach Indien reist, wie wir es getan haben, fällt sofort auf, daß Indien eigentlich gar kein Entwicklungsland ist. Es gibt hier alles, und fast alles ist selbst produziert. Mein erstes Erlebnis in Hyderabad war die Suche nach Kupferlackdraht zum Antennenwerfen. In Afrika habe ich gar nicht erst versucht, die sowieso zum Scheitern verurteilte Suche danach zu starten. Auf La Réunion haben wir uns dann dann die Hacken abgelaufen, um irgendwo am Stadtrand in einem unfreundlichen Laden von völlig inkompetenten VerkäuferInnen ein paar Meter hauchdünnes Drähtchen zu einem horrenden Preis zu erstehen. Ganz anders in Indien: Irgendwo frage ich nach einem Drahtgeschäft. Nicht in diesem "Bazar", bekomme ich zu hören. Richtig. Hier gibt es offenbar nur Geschirr und ein paar Schritte weiter gibt’s dann ausschließlich Fahrräder. Der Elektronikbazar sei aber nicht weit! Im Elektronikbazar angekommen, der sich offenbar über mehrere Straßen verteilt, quillt Musik aus jeder Ecke, denn hier werden Radios verkauft. Aber kein Draht in Sicht. Ja, aber da gibt es eine Unterabteilung des Bazars mit Drahtgeschäften, nur ein paar Ecken weiter, sagt man mir. Tatsächlich: Eine Straße mit einem Drahtladen am anderen. Sehr lang. Also frage ich noch einmal, und man zeigt mir eine Stelle, die mir die Augen übergehen lassen: Mehrere Geschäfte, die ausschließlich Kupferlackdraht verkaufen. Und zwar in allen erdenklichen Größen, Längen und Qualitäten, von der kleinsten Spule bis zur größten Kabeltrommel. Seit diesem Erlebnis denke ich, daß Indien in gewisser Hinsicht das geordnetste Land der Welt ist. Und wenn ich dann an die spärliche Auswahl bei P & M in Bonn denke, frage ich mich, wo das Entwicklungsland ist.

Aber mir fällt ein, daß dies gar nicht das erste Erlebnis dieser Art war. Denn schon am zweiten Tag hatten wir einen Kaufwunsch, der uns nach unseren Afrika-Erfahrungen völlig realitätsfern erschien. Wir brauchten einen Pritt-Klebestift! Nun fing das Problem schon damit an, den äquivalenten englischen Ausdruck zu finden. Wir machten noch Witze über die mögliche Reaktion des Verkäufers, wenn wir „Pritt-Stift" mit englischen Akzent verlangten. Ein potentieller Schreibwarenladen war schnell gefunden und – wir trauten unseren Augen kaum – da lachte er uns an, der Pritt-Stift, „made in India" versteht sich. Sie machen wirklich alles selbst. Zwar mitunter mit japanischer Hilfe bei Farbfernsehern und Videorekordern, aber eben in Bombay produziert.

Das Fehlen ausländischer Waren treibt allerdings auch seltsame Blüten. In Hyderabad wohnten wir zeitweise in einer Art Studentenheim auf dem Gelände von ICRISAT. Als unsere Abreise nahte, nahm mich der für die Zimmerorganisation zuständige Mann beiseite (hier ist immer irgend jemand für irgend etwas ganz spezielles zuständig) und fragte mich geheimnisvoll, ob ich nicht ein Spray hätte. Ein Spray? Yes, you know, und er zeigt auf seine Achseln. Unvorsichtigerweise begann ich die Antwort mit der Erklärung, daß wir dafür kein Spray zu benutzen pflegen, sondern, ja, was heißt denn „Deo-Stift" auf englisch? Wieder das Stift-Problem. Jedenfalls sind unsere ausländischen Objekte sehr begehrt, und besonders dieser Deo-Stift erregte dann noch einmal Aufsehen.

Ich wohnte in einem kleinen Hotel mit ein paar zellenähnlichen Zimmern. Der Besitzer war ein älterer Mann, der sich sehr „typisch indisch" verhielt. Dauernd wurde an meine Tür geklopft, geschlagen, wegen irgendwelcher Nichtigkeiten. Wenn ich in Indien die Zimmer nicht von innen verriegeln würde, kämen ständig irgendwelche Leute vom Hotel ohne sichbaren Grund herein. Und daß man seine Ruhe haben möchte, wird nun gar nicht verstanden. Und in solch einem Fall nicht zu reagieren, hat auch keinen Zweck, denn es wird minutenlang an die Tür geklopft, gedonnert, bin man weich ist. Bei diesem Mann bestellte ich also schließlich ein kaltes Getränk aufs Zimmer, und obwohl ich an der Tür stand, zwängte er sich in mein Zimmer, überreichte mir die Flasche und wartete darauf, daß ich sie nun austränke. Völlig zwecklos war es, ihn davon überzeugen zu wollen, daß ich die Flasche ja später zurückbringen könnte und er ja jetzt eigentlich hier nichts mehr zu tun hätte. Nachdem er mir interessiert beim Trinken zugesehen hatte, machte er sich in aller Ruhe daran, meine Sachen zu durchsuchen. Erst als er in meinen Rucksack öffnete, bin ich eingeschritten. Und wegen des von ihm dort entdeckten Deo-Stiftes ist er sogar am nöchsten Morgen ganz früh aufgestanden, um mich noch abzufangen und danach fragen zu können.

Die Neugier der Menschen in Indien ist skrupellos. Niemand hat die geringste Scham, sie zu zeigen. Jeder Straßenstreit lockt Massen von Menschen heran, von Unfällen ganz zu schweigen. In den Bussen springt dann alles von den Sitzen, um auf die interessante Seite zu stürzen. Und sie können uns Europäer minutenlang wie Kinder anstarren, ohne den Blick abzuwenden. In Indien gibt es kein Privatleben. Auch die stereotypen indiskreten Fragen sind gewöhnungsbedürftig: Woher? Beruf? Beruf der Eltern? Verheiratet/Kinder? (beliebte Frage an Bärbel). Und es geht dabei zu wie während eines Verhörs. Es ist sehr beliebt, alles, einschließlich der Menschen, zu klassifizieren und in irgendeine Schublade einzuordnen. Es ist wichtig, woher man kommt und welchen Beruf man hat. Je mehr Titel, desto besser; alles andere ist unwesentlich.

Und dies gilt auch in der Beziehung zwischen den Geschlechtern: Liebe? Nein danke! Die Wochenendausgabe der englischsprachigen Zeitung „The Hindu" ist voll von Heiratsanzeigen. Und die lauten dann etwa so:

Anträge erbeten
Für: Vadama-Iyer-Mädchen (das ist die Kaste und Unterkaste), 24/169/3000, sehr hellhäutig, häuslich gedrillt, baldiger Abschluß NIIT-Computer-Diplom mit ausgezeichneten Zeugnissen, Preisverleihung in Aussicht, USA-Aufenthaltsgenehmigung, Vater Arzt mit eigenem Haus, Verwandte in USA, Kanada, UK,
Von: höherem Regierungs bzw. Bankangestellten oder promovierten Computerfachman in renommierter Firma, USA/UK-Ausbildung von Vorteil, sehr guter Familienhintergrund, Subkaste akzeptabel.
Bewerbungen mit ausführlichem Horoskop an Chiffre…

Oder erfrischend lakonisch:

Gesucht: Hellhäutiges, großes, schönes, nicht-Koundinya Brahmanenmädchen, keine Brille, Diplom Minimum, Computerkenntnisse erwünscht.
Für: Ingenieur Siemans/Bombay 28/6000. Horoskop ist beizulegen.

Natürlich werden diese Anzeige von den Eltern aufgegeben. Eine junge Frau, die in den USA studiert (!) sagte uns stolz, daß sich die Paare in modernen Familien schon vorher kennenlernen können. „Wie lange denn vorher?" fragte wir. „Na ja, so an die zehn bis zwölf Stunden…". Uns trennen offenbar Welten. Das Romantische fehlt und wird in den Filmen dann umso kräftiger nachgeliefert. Es bestehe ja immer die Hoffnung, daß die Liebe sich im Nachhinein einstelle, sagt man uns. Und schließlich habe doch auch schon das Platzmachen für einen anderen Menschen, und später für die Kinder, seinen eigenen Reiz, oder? Wo soll sich denn auch bei dieser Einraum-Enge die europäische Verspieltheit entwickeln?

Die Filmpäärchen pflegen sich in grüner, menschenleerer Natur zu bewegen. Gibt es so etwas in Indien? Ja, es gibt ein paar berühmte Bergdörfer, die ein solches Erlebnis halbwegs ermöglichen, allerdings mit tausenden von Gleichgesinnten… Und die meisten dieser Flitterpäärchen sehen tatsächlich verliebt aus und berühren sich sogar mitunter in der Öffentlichkeit. Ansonsten lebt man in Indien extrem prüde.

Diese Zurückhaltung gilt jedoch nicht, wenn es um die menschliche Notdurft geht, wohl aufgrund fehlender Einrichtungen. Eines der ureigensten indischen Erlebnisse ist eine Bahnfahrt durch die weiten, von kleinen Feldern unterbrochenen Vorstädte der großen Metropolen, wie zum Beispiel Bombay. Auf einer solchen Fahrt kann man nämlich die gesammte männliche Bevölkerung beim Kacken betrachten, wobei die derart beschäftigten dem Reisenden leutselig entgegenblicken. Frauen sieht man dabei nie, und wir haben nachgefragt, wie sie das denn regeln? Die Antwort lautet: Sie machen es ganz früh morgens, wenn alle Männer noch schlafen.

Ja, die indischen Frauen und Mädchen, die offenbar dann am meisten geliebt werden, wenn sie, wie es in einem bekannten indischen Märchen ausgedrückt wird, in der Hochzeitsnacht „vor Angst und Scham zittern". Bei einer Diskussion zu diesem Thema versuchte mir ein Mann klar zu machen, daß unser westlicher Begriff von den Rechten der Frau hier fehl am Platze sei. In Indien müsse man das Wort „Respekt" verwenden. Man respektiere die Frau, achte sie hoch und beschütze sie. Fast wollte ich ihm, zumindest theoretisch, Recht geben. Doch dann fügte er dummerweise hinzu: „Wissen Sie, das ist wie mit den Kühen, die respektieren wir auch…".

Jedenfalls sind fast alle indischen Mädchen sehr hübsch, nur die Töchter reicher Eltern sind zu fett. In der Öffentlichkeit gehen Jungs und Mädchen, Männer und Frauen, völlig getrennte Wege. Das fängt schon damit an, daß sie auch im Bus getrennt sitzen. Und dann sind die Mädchen so behütet, daß hier eine junge Frau mit zwanzig Jahren eine Weltsicht hat, wie eine europäische Vierzehnjährige. Bei den Männern ist das allerdings nicht viel anders. Junge Männer in der Gruppe benehmen sich wie kleine Kinder.

Wobei wir wieder bei der Horde angelangt sind, die Barbara vielleicht auf ihrer Wanderung ertragen mußte. Mußte sie aber nicht, denn sie kam gerade zurück und berichtete enttäuscht, daß sie fast keine Tiere zu sehen bekommen hat (nur ein paar indische Rehe oder so etwas). Ihre Wandergenossen waren fünf Deutsche und ein Belgier.

Jetzt sitzen wir also hier in den Kardamom-Bergen, es gibt hier ein Kardamom-Auktionshaus, und werden morgen in einer Hütte mitten im Wald übernachten, mit der Hoffnung auf Elefanten. Hier , in 1000m Höhe, ist alles ganz unindisch ruhig. Kein Straßenlärm. Dafür ein paar Krähen. Und dann und wann hören wir dann doch die etwas leiseren Geräusche Indiens, nämlich das Gerülpse, Gerotze und Gespucke unserer Nachbarn. Aber auch diese traditionellen Angewohnheiten werden bereits von sogenannten kultivierten Indern verachtet. Wir haben das Gefühl, hier noch alles wahrhaftig erleben zu können. Und wenn uns wieder einmal ein Haufen unfreundlicher, arrogant-altkluger Landsleute aus West oder Ost (die Schlimmsten!) auf die Nerven geht, dann erlischt jedes Heimweh, und wir sind froh, hier zu sein.

Trotzdem bis bald,

Euer Christoph

 

Cochin, den 15.4.92

Hallo!

Nun sind es also fast drei Wochen her, daß ich den Brief geschrieben habe. Aber dann wurde er noch umgeändert, und Bärbel kam auf die Idee, ihn ein paar Mal zu kopieren, um ihn auch an andere Leute zu verschicken. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, denn der Brief war ja ursprünglich nur für Euch gedacht. Morgen fliegen wir nach Goa, um dort Ostern zu erleben. Wir nehmen das Flugzeug, da ich mich etwas schonen möchte, denn ich habe Hepathitis (A) bekommen. Das ist eigentlich eine gute Nachricht, denn somit bin ich jetzt lebenslang dagegen immun. Ich darf jetzt die nächsten zwei, drei Wochen keinerlei Fett essen und soll unnötige Anstrengungen vermeiden. (Diese Karte schreibe ich im Bett, mit Blick auf die Hafeneinfahrt von Cochin. Viele große Pötte.) Die Diagnose ist schnell und eindeutig geschehen und so billig, daß die LVM nicht bemüht zu werden braucht. Der Funk am 12.4. war gut zu hören (nil…). Bis Poona oder so, Euer Christoph

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